.
Es ist früh. Sehr früh für einen Samstag Morgen - vor allem, wenn du nachts noch im Rheingau bei einem Hochzeitsfest weiltest und erst mitten in der Nacht nach Hause gekommen bist - bei einem Hochzeitsfest, während dessen sich zu allem Überfluss noch in deiner kleinen Kamera Fusselteilchen zwischen Linse und Chip festgesetzt haben und dadurch nun auf jedem Bild ein Schatten mehr oder weniger deutlich zu erkennen ist. Am Montag ein Fall für die Garantie, wie ich hoffe.
Es ist früh. Eigentlich zu früh. Planlos tapste ich durch die Wohnung; Pia wuselte schon emsig, kochte Kaffee, belegte Brötchen und war guter Dinge. Vielleicht nicht, was das Ergebnis betrifft, aber auf jeden Fall in Bezug auf das Wetter. In Bremen wird es nicht regnen. In Bremen nicht. So blieb meine Regenjacke zu Hause.
Die Bremer Polizei hatte ja für das bevorstehende Spiel ein
Anschreiben an die
Fanbetreuung verschickt, welches in moderatem Tone mitteilte,
dass heuer keine Massenverhaftungen geplant seien; so etwas beruhigt ja ungemein, verrät aber auch, dass im letzten Spiel in Bremen eben jenes geplant und - wie wir wissen - auch durchgeführt wurde. Keine Massenverhaftungen geplant - das ist doch mal eine Perspektive. Was kann einem schönem Tag jetzt noch im Wege stehen?
An der Friedberger Landstraße wird gebaut, vor lauter Verkehrsbarken siehst du kaum die Straße, die heiße Sonne der letzten Tage hatte sich zurückgezogen, der Himmel drückte ein wenig grauer, warm war's dennoch und langsam rollte der silberne Golf auf den Asphalt, auf die A661 und am Bad Homburger Kreuz auf die A5 - annähernd 450 Km lagen vor uns - einfache Strecke - Ingo, unser Bremer Freund welcher derzeit in Italien urlaubte, hatte uns noch via SMS einen Parkplatz in einem Wohngebiet empfohlen, nah am Stadion aber doch weit genug vom engeren Bereich, so dass wir guter Dinge den Highway entlang sausten. Im Player rotierte das zweite Album von
Cosmic Baby,
Thinking about myself - aus einer Zeit, als wir alle noch jung waren und Trance das große Ding, noch nicht verkommen zu Happy Trance und pitsch-patsch Sound mit hellen Stimmchen zu Auto-Scooter Veranstaltungen.
A Loop is a loop is a loop ...Thinking about myself - dafür hast du Zeit, wenn du als Beifahrer durch Deutschland rollst und nachdenkst über die Zeit, die eigentlich deine sein soll und die doch bestimmt wird von all denen, die in übergroßen Autos neben dir fahren und von Krise reden, während die Scheine in deinem Geldbeutel ebenso rar geworden sind, wie Punktgewinne der Eintracht bei vermeintlich "Großen".
Eine Autobahn ist derzeit nichts anderes als eine Dauerbaustelle von Talbrücke zu Talbrücke wo immer ein Wagen die mittlere Spur blockiert. Stoisch schnurrten wir durch Hessen, auf Cosmic Baby folgte der erste
Eye-Q Sampler, doch selbst der trancingste Klang konnte nicht verhindern, dass es nun anfing zu schütten. Die Scheibenwischer schwappten auf höchster Stufe, Siegerland, Sauerland, Münsterland, Emsland, die Zeit raste, wir nicht. Wir standen, bzw. rollten phasenweise mit 50 über die A45 später über die A1. Ausgetranced, auf
Vernon's Wonderland folgte Depeche Modes
Playing the Angel. Irgendwo in Deutschland entdeckten wir aus den Augenwinkeln den alten Eintrachtbus auf dem Parkplatz
Auf der Bon und irgendwo in Deutschland fuhr neben uns ein goldenes Auto mit einem goldenen Schalke-Aufkleber - wahrscheinlich dudelte dort:
Mohammed war ein Prophet, der von Fußball nichts versteht. Genau, deshalb hat er sich dann angeblich irgendwie um Schalke gekümmert und sich am Vereinslied versucht - aber das wiederum ist eine ganz andere Baustelle und hat hier eigentlich nichts verloren. Gold auf Gold.
Lotte. Lotte ist ein Ort, der vorwiegend durch einen Fußballverein mit dem Namen
Sportfreunde Lotte bekannt ist und in dem ich noch nie war. Wie gerne würde ich einmal einem Pokalspiel zwischen Lotte und Berlin, sprich Hertha, beiwohnen und die Fangesänge hören; die Einen:
Auf geht's Lotte schieß ein Tor, die Anderen:
Steht auf, wenn ihr Hertha seid.
Lotte gegen Hertha, liebe Fußballgötter macht es doch einmal möglich. Bitte.
Es regnete noch immer, ich sah uns gedanklich mit frisch erworbenen Friesennerzen im Weserstadion ertrinken, Dave Gahan sang nun davon,
dass nichts unmöglich sei,
nothing's impossible; Windräder drehten sich stumm im Nass und mich durchzuckte der Gedanke, dass der Titel des Songs ja wohl ein gutes Motto für heute sein könnte:
Nothing's impossible. Pia war ja schon die ganze Zeit der Überzeugung, dass es in Bremen nicht regnet. Und überhaupt, weshalb sollte die Eintracht heute hier verlieren. Genau:
Nothing's impossible. In Osnabrück heißt das
Rathaus übrigens
Rathaus des Westfälischen Friedens. Genau wie in Münster. Das kann man von Autobahnschildern lernen.
Christian rief an, er weilte noch in Hamburg - bei strahlendem Sonnenschein - während wir uns noch durch die Wassermassen kämpften, ähnlich wie die Sossenheimer, den einzigen Fanbus, den wir auf der Strecke sahen. Sonne in Hamburg. Hoffnung.
Delmenhorst, nach Hunderten von grauen Kilometern hatte es tatsächlich ausgeregnet und die Scheibenwischer, die stundenlang ohne zu murren ihren Dienst verrichtet hatten, konnten nun ausruhen - wir näherten uns nach über fünf Stunden der Ausfahrt
Bremen-Hemelingen, folgten dem Streckenverlauf und parkten in dem Wohngebiet, das uns Ingo empfohlen hatte:
Hurra, hurra, die Frankfurter sind da.Nothing's impossible.Freundliche kleine Altbauten standen dicht an dicht, viele von ihnen mit verglaster Veranda und blumiger Gartenbepflanzung, und mit jedem Meter trafen wir auf mehr Werderaner, die an Buden standen, Bier tranken und über die Höhe des Sieges debattierten. Als wir ein Büdchen betraten, purzelte ein Werder-Fähnchen zu Boden;
dass dies ein Zeichen war, war uns klar. Wir wussten nur noch nicht für
was.
Bald stießen wir auf den Osterdeich, vor uns ragten die Flutlichtmasten in die Höhe, direkt daneben die Baukräne des sich im Umbau befindlichen Weserstadions - dem Ort des letztjährigen Grauens: 234 Festnahmen, Einkesselungen und eine 0:5 Klatsche lautete die
Bilanz der letzten Begegnung hier im Norden, die sicherlich niemand so schnell vergessen wird.
Der Bremer Bus fuhr ein und wir wanderten zum Gästeeingang, Bremer und Frankfurter umstanden traditionell die Buden, aßen Fischbrötchen und tranken Haake-Beck, eigentlich wollten wir ja noch einen Abstecher ins Wuseum machen - Baustellen und Regen zogen aber einen Strich durch die Rechnung - und so lungerten wir wie alle vorm Stadion rum. Immer wieder marschierte ein Trupp Polizisten vorbei, begleitete die Insassen eines Eintrachtfanbusses vor die Kurve, um dann doch Bremer und Frankfurter zusammenkommen zu lassen. Weißbehelmte Pferdereiter staksten durch die Menge, die Fischverkäuferin mokierte sich völlig zu Recht, dass einige Frankfurter von den Cops grundlos aber rüde angepackt wurden und für meinen Geschmack signalisierte das Aufgebot der Klon-Krieger nicht gerade Deeskalation, vor allem nicht, wenn gleich zwei Videokameras die unaufgeregte Szenerie filmen. Aber man muss ja schon dankbar sein, wenn es keine Massenverhaftungen gibt. Großartig. Irgendeiner bestellte acht Cola, acht Bier.
Christian stieß aus Hamburg zu uns und bald stellten wir uns zwecks Leibesvisitation an den Einlass. Nachdem wir eine Schleuse passiert hatten, folgte die ärztliche Untersuchung - angesichts der Baustelle hätte ich ja in meiner kurzen Hose eine Kettensäge verstecken können, immerhin, die Ordner waren freundlich - es sind ja auch keine ausgebildeten Sonnenstudio-Kampf-Pitbulls wie die Kollegen mit den grünen Beinschonern, deren Humorverständnis tendentiell gegen Null geht.
Stadion Innen. Metall. Die alte Tribüne mit dem tiefgezogenen Dach war abgerissen, statt dessen bot eine Stahlrohrtribüne annähernd 1800 Eintrachtlern Platz - dahinter wuchs ein Stahlgerüst in die Höhe, verziert mit einem überdimensionalen Reklameplakat. Hier winkte die kleine Pia, den rechten Arm schwer verbunden - das Verletzungspech nimmt kein Ende - , dort schlappte Buffo entlang, André hatte eine Trommel dabei und von überall winkten bekannte Gesichter. Aus den Lautsprechern wummerten ein paar Bremen-Liedchen, hilflos wurde uns von beflissenen Sponsoren veklickert, wie
Bank angeblich heute geht (so lautete der Slogan auf den Bremer Trikots, ein Slogan den ich kurz beantworten kann.
Bank heute: Sammelt alles Geld von kleinen Leuten ein, steckt euch ein Großteil in die Tasche, verpulvert den Rest, lasst euch vom Staat großzügig Milliarden schenken, steckt euch davon wieder ein Großteil in die Tasche und macht weiter wie immer) vor uns der Zaun - Anpfiff.
Bremen spielt in diesem Jahr ohne Diego und Pizarro, die 2008/2009 alleine fünf Treffer gegen die Eintracht erzielt hatten, die Eintracht lief mit Chris anstelle von Köhler auf und äußerst munter ging es gleich nach Beginn los. Nach wenigen Minuten verkündete die Anzeigentafel den ersten Treffer des heutigen Spieltages, Mainz führte gegen Leverkusen und nur wenig später fiel das zweite Tor des Tages. Das erste in Bremen und das erste für die Eintracht. Großer Jubel im Block, Amanatidis hatte eine Hereingabe von Teber über die Linie gedrückt.
Auswärtssieg, Auswärtssieg schallte es durchs weite Rund, doch Werder zeigte sich zunächst unbeeindruckt, Özil wuselte im Strafraum, purzelte hin und verwandelte den anschließenden Elfmeter zum vorübergehenden Ausgleich. Jetzt war die Werder Kurve erwacht, links unten hing ein Transparent
Stoppt Orange - die Fans haben ebenso wie die Eintrachtler mit dem unschönen
Rosa auf Devotionalien damit zu kämpfen, dass sich Vereinsunabhängige Farben ins Gesamtbild schleichen -
Werder, Werder tönte es nun erstaunlich laut durchs Weserstadion. Ebenso unbeeindruckt wie zuvor der SVW spielte jetzt die Eintracht Fußball und es war erneut Amanatidis, der zur Führung für die Frankfurter traf. Bierbecher, High Five,
Auswärtssieg ... Ausgleich. Nikolov hatte eine Flanke unterlaufen (für meinen Geschmack behindert vom Gegner ) Ochs machte irgendwas und Sanogo lenkte den Ball postwendend ins Eintracht-Tor. An den hoch positionierten digitalen Reklamebanden flimmerte Werbung entlang, mit jeder neuen Reklame hatte ich kurz den Eindruck, dass eine Leuchtrakete gezündet wurde, derart irritierend flackerte die Laufreklame in den Augenwinkeln. Mist. 2:2.
Halbzeit. Junge Buben durften Trikots von einer Leine schießen, was dem ein oder anderen auch gelang und wir stellten fest, dass mit Beginn der zweiten Hälfte Fenin für den angeschlagenen Amanatidis ins Team gekommen war. Nun machte Werder Druck, Nikolov hielt die Eintracht im Spiel, immer wieder klärte er vor den anstürmenden Werderanern, bei denen Özil auffällig agil spielte und Marin mehr fiel als stand. Und als es nur noch eine Frage der Zeit war, bis Bremen in Führung ging, drückte Fenin bei einem der seltenen Entlastungsangriffe den Ball unter ungläubigem Staunen mit anschließend exzessiven Jubel den Ball zum 3:2 für die Eintracht an Frau Wiese vorbei ins Tor. Bremens Anrennen blieb erfolglos, im Gegenteil- nun bekam die Eintracht noch die ein oder andere Chance, Wiese hielt tadellos und so mussten wir am Ende noch ein wenig zittern. Eine gelbrote Karte für Prödl läutete das Ende ein - nach 92 Minuten war Schluss - und die Eintracht hatte nach anderthalb Jahren (2:1 in Leverkusen) mal wieder einen "Großen" besiegt. So geht Fußball heute. Prompt traf auch eine Glückwunsch-SMS von Ingo ein; so ganz leicht wird es ihm aber nicht gefallen sein - dennoch: Danke.
Wir blieben noch eine ganze Weile im Stadion, feierten zunächst kurz die Mannschaft und warteten dann auf die angekündigte Pressekonferenz. Die eingeblendete Tabelle wies für die Eintracht den zweiten Platz aus, was wir mit einem
Eurobabogaal locker ergänzten; während die Bremer
ausliefen wie es im Fußballjargon heißt. Fritz drehte mit Frings seine Runden, auch Frau Wiese eierte über den Platz und nahm die üblichen Sprechgesänge der paar Rest-Frankfurter mit Humor. So ziemlich als letzte verließen wir den Ort des Triumphes und landeten auf dem Vorplatz, wo die Ultras unter großem Polizeiaufgebot auf einen Kumpel warteten, der später schwer bewacht zurück gebracht wurde. Ein Bremer Trommler suchte leicht angeschickert den Dialog mit den Frankfurtern und wurde hintereinander von drei Polizisten eher grob daran gehindert und wir wanderten weiter und hockten uns auf den Deich, um den Abzug der Gladiatoren zu beobachten; nur wenig später bog der Eintracht-Bus um die Ecke und wir winkten den Auswärtssiegern fröhlich zu.
An Bremer Fankneipen vorbei wanderten wir durch das Viertel und entdeckten die
Werder-Halle, bemalt mit historischen Szenen aus der Geschichte von Werder Bremen; Rehagel reckte die Meisterschale in die Höhe, Kutzop stand daneben, Schaaf streckte die Videokamera aus dem landenden Flugzeug; an das Meisterteam von 1964/1965 wurde ebenso erinnert wie an die unheiligen Jahre 1933-1945 oder die Anfänge als Fußballverein Werder Bremen 1899 - tolle Malereien an der Fassade, die uns auf ein Schnitzel in die Wirtschaft trieben. Hoffenheim kickte gerade gegen den FC Bayern, Obasi erzielte zwischen Schnitzel und Salat den Ausgleich, was wir recht ungerührt zu Kenntnis nahmen; wir zahlten und gönnten uns noch ein Eis um die Ecke - zwischen Möhrcheneis und Kürbis entdeckte ich die Sorte Waldmeister - und wo es Waldmeistereis gibt, da ist die Welt noch in Ordnung. Vor allem, wenn die Straßen solche Namen tragen.
Bremer Stille, der Golf parkte noch so, wie wir ihn verlassen hatten und über die Weser ging es zurück auf die Autobahn. Langsam legte sich die Nacht über Deutschland die Parkplätze hießen nun
Kurze Geist oder
Dümmer Dammer Berge, rechts lag Meppen später Münster und aus dem Radio schepperten großartige Indie-Songs der letzten Jahrzehnte, PIL zum Beispiel mit dem fantastischen
Rise oder Wedding Present oder Carter USM. Wir sangen mit, rollten dabei von Baustelle zu Baustelle und tuckerten gegen Mitternacht müde aber glücklich über die Friedberger Warte ins Nordend. Das ganze Leben ist eine Baustelle. Wenn es sich anfühlt wie ein
Auswärtssieg, soll es mir recht sein.
Nothing's impossible? Recht so.